"Das tapfere, kleine Manuskript" von J.M.S. von 2006


Das tapfere kleine Manuskript Es war einmal ein kleines Manuskript. Das stand schon kurz vor seinem 15. Geburtstag und sein Autor fragte es, was es sich denn wünsche. Es zitierte: „Bring mir das Erste mit, was Dir auf deinem Weg zum Verlag über den Weg läuft.“ Schon bald hatte der Autor eine wichtige Verlagsversammlung. Er wusste, dass die Reise zum Verlag so lange dauerte, wie man brauchte, um eine 1.500 Seiten dicke Schnulze zu lesen. Also nahm er schweren Herzens Abschied, redigierte noch ein letztes Mal an dem Manuskript herum, und überließ es dann sich selbst. Er sprach noch: „Aber öffne niemandem die Tür. Ein Kritiker könnte kommen und dich verreißen.“ Dann setzte er sich in seine gläserne Worthülse und fuhr davon. Das (gar nicht mehr so) kleine Manuskript indes öffnete jeden Schrank und jede Schublade im Haus, sah in jedes Bücherregal und erlebte so einen Krimi- spannenden Nachmittag. Als es sich aber satt gelesen hatte, fing es an sich zu langweilen (was bei einem Manuskript natürlich tödlich ist, welcher Lektor mag schon ein Manuskript, das sich selbst anödet, und der größte Wunsch des Manuskripts war es einen schönen Leser zu finden, der es mit sich auf sein Schloss nahm). Als es sich gerade überlegt hatte, das Haus des Autors zu verlassen und ein bisschen über die sieben Berge zu wandern, klopfte es an der Tür. „Wer ist dort draußen?“ fragte das Manuskript ganz hölzern. Eine dunkle Stimme (vielleicht die des bösen Kritikers) antwortete: „Ich bin es, der Autor, lass mich ein, ich habe meine Schlüssel vergessen. Doch Vergesslichkeit war so gar nicht die Art des Autors, der alle seine Termine immer einhielt. P.S: Diese Geschichte spielt im Märchenland. Misstrauisch fragte das Manuskript: „Wenn du mein Autor bist, was steht denn auf Seite 238?“ „Ähem, “ kam es zögerlich von draußen, „sicherlich etwas Spannendes, Schönes, Schreckliches, Spektakuläres, wie auf allen deinen Seiten.“ Schon war das Manuskript den Worten des Fremden verfallen, es öffnete die Tür, und der Kritiker stürzte sich auf es und verriss es. Tagelang hatte er gehungert, doch jetzt wurde sein Hunger endlich gestillt und wenn er nicht gestorben ist, so verreißt er noch heute.

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