Text Irrtur 15.07.2013
„Gefangener Körper- Freie Seele“ oder „Innen Sein- Außen
Leben“
Vorgeschichte: Oktober 2007
„Die Buchexpertin war unterwegs. Ich war die Buchexpertin. Ich wurde geschätzt und geliebt für meine Expertenmeinung zum Sortiment, zur Schaufenstergestaltung, Dekoration. An diesem Tag, Freitag, dem 26. Oktober wurde mein Besuch in der Hübner´schen Buchhandlung in Essen erwartet.
Im schicken Nadelstreifenanzug ging ich dorthin, ich hatte nur eine kleine Handtasche dabei.
Bis zu dem Termin war noch mehr als eine Stunde Zeit. Also besah ich mir den Laden. Zuerst ging es zu den Kalendern. Ich packte mehrere großformatige Gartenkalender aus und breitete sie auf einem Tisch aus. Ich rief einen vorbeigehenden Mann zu mir und befragte ihn, welchen er am ehesten kaufen würde und ob das nicht „wunderschöne Gärten“ seien. Er überlegte und antwortete: „Den da!“
Ich bedankte mich und ging weiter zur nächsten Abteilung. Die Kalender auf dem Tisch waren meine erste „Präsentation“ (meines Sinnes für das Schöne) an diesem Tag.
Ich ging weiter zu den Biografien. Ich legte Mantel und Tasche auf einen Hocker, um mich mit beiden Händen den großen Bänden widmen zu können. Ich packte einige Bücher aus den sinnlosen, einengenden Plastikfolien aus und stellte sie wieder so auf, dass man auf sie aufmerksam würde.
Wie ich so emsig arbeitete, kam eine ältere Dame auf mich zu und fragte nach einem bestimmten Titel. „Ich bin leider neu hier“, antwortete ich und verwies sie an die Kollegin am Infotisch.
Heissa, Ich war begehrt. Ich wurde geschätzt und geliebt.
Danach setzte ich mich in den großen Sitzkreis. Neben den Bänken lagen Flyer mit einem Gewinnspiel. Ich wendete mich an „alle“ (Menschen, die dort saßen) und fragte, ob sie da nicht mitmachen wollten. Ich bekam keine Antwort und warf ich die Karten kurzenstschlossen alle in die Mitte des Sitzkreises. Die Menschen sahen mich nur staunend an. Kurz darauf merkte ich, dass ein Mann etwas näher an mich ran rutschte. Ich wusste sofort, dass es intuitiv geschah. Ich fragte ihn, was er beruflich mache. Zuerst wollte er nicht antworten, dann gab er zu Englischdozent zu sein. „Aha“, antwortete ich mit Expertenmiene. Und ich habe Englisch studiert“. Wieder hatte ich einen Treffer gelandet.
Danach ging es in die Kinderbuchabteilung. Ich setzte mich in die Minisitzgruppe, in deren Mitte ein Behältnis voller „Tiksi“-Bücher stand und legte sie händeweise auf den Tisch. Die anwesenden Kinder starrten mich seltsam atemlos an.
Plötzlich hörte ich vor dem Sitzkreis eine „Kollegin“ schimpfen: „Das gibt’s doch nicht. Überall liegen ausgepackte Bücherstapel. Und ich darf alles aufräumen. Wer macht denn sowas?“
Schwupps wurde aus der „Buchexpertin“ wieder die Bummelstudentin, die sich einfach nur mal einen lustigen Tag in der Stadt machen wollte und ich verließ unauffällig die Buchhandlung.
Hätte man mich erwischt, hätte ich vielleicht Hausverbot bekommen. Das wäre sehr schlecht gewesen, denn entgegen dem oben stehenden Bericht kannte ich die Buchhandlung sehr wohl. Sie war meine absolute Lieblingsbuchhandlung, manchmal nenne ich sie im Scherz auch „Arbeits,- bzw. Wohn,- zimmer“.
Am nächsten Tag lief ich ohne Schuhe und Strümpfe durch den kühlen Herbstmorgen. Meine ehemalige Kinderfrau brachte mich dann zu sich in Obhut und wenige Stunden später fuhr ich mit Blaulicht in die Klinik, das „Lied des Volkes“ auf den Lippen.
Fünf Jahre später: Erlebnisse während des dritten Klinikaufenthaltes
Es war wiede so weit. Zum dritten Mal war ich in dem Haus ohne Schlüssel. Jedenfalls besaß ich keine Schlüssel. Ebenso wenig wie Personalausweis, EC-Karte oder Studentenausweis. Wie immer war ich ein lauter, widerwilliger Gast. Ich hatte die Einladung eigentlich nicht angenommen, vielmehr abgelehnt.
Die „Wärter“ der Irrenanstalt, wie ich die Menschen in Weiß mit der Schlüsselgewalt nannte, mochten mich genau so wenig wie ich sie.
Wenn ich Besuch bekam (nach meinem Gefühl viel zu selten), bettelte ich um Geld für Süßigkeiten und Kleingeld für das Münztelefon. Meine Telefongespräche am Münzetelefon brachten keine wirklichen Ergebnisse. Meistens erreichte ich nur Anrufbeantworter (weil meine Verwandten arbeiteten oder im Urlaub waren). Immerhin erreichte ich meine Oma zweimal. Wahrscheinlich spendete sie mir Trost. Genau sagen kann ich das allerdings nicht mehr.
In der Klapse gibt es nicht viel Farbe. Deswegen wächst der Drang nach Musik, Zucker und schönen Dingen nach ganz kurzer Zeit ins Unermessliche.
Leider war mein „Musikspieler“ mal wieder verschwunden. Ich glaube, das war inzwischen der dritte. Sie wundern sich über die deutsche Bezeichnung ? Das ist bei mir ein Phänomen meiner Manie: wenn ich „krank“ bin, verleugne ich alle fremden Sprachen, aus dem „mp3-Player“ wird „Musikspieler“ aus „Salmon“ wird „Lachs“, im besonderen Fachbegriffe, mit denen die Ärzte mich bewerfen, bringen mich zur Weißglut. Natürlich verstehen die Weißkittel das nicht. Sie haben schließlich lange studiert, um so sprechen zu können, dass niemand sie versteht.
Zu stark sind die Medikamente auf der „Geschlossenen“. Wer weiß, vielleicht lässt mich mein Körper auch die schlimmsten Dinge vergessen, um mich zu schützen. Jedesmal wenn ich aus der Klinik kam, war es, als wäre mein ganzes Sysem gelöscht und neu aufgespielt worden, ohne eigene Dateien (zumindest was die letzten Wochen anging).
So ist das, wenn man „zu seiner eigenen Sicherheit“ von den „Normalen“ getrennt wird.
Ich bemerke die Rückkehr der Manie unter anderem daran, dass ich Sachen verstecke. Meine Wohnung ist voller Dinge, voller als andere Wohnungen. Ich sammele Figuren, Stifte, Bücher, CDs. Ich bin mit dem gesamten Inhalt meines Kinderzimmers in das neue Haus meiner Eltern gezogen und dann, nach zwei Jahren, in meine Zweizimmerwohnung. Ich kann nicht sehr gut loslassen.
Normalerweise.
Wenn ich „drüber“ bin, nehme ich Lieblings-CDs- und-bücher mit mir und verteile sie mit vollen Händen. Nach einigen Wochen, wenn ich wieder ausgeglichener bin, suche ich diese Dinge dann und weiß nichts mehr von meiner „Großzügigkeit“. Meist wollen die Leute meine Gaben auch gar nicht. Ich drücke sie ihnen einfach in die Hand und laufe weg.
So war es bis jetzt. Denn nach diesem dritten Klinikaufenthalt habe ich mir alle wichtigen Sachen aufgeschrieben. Ich habe mich selbst davor gewarnt, Grenzen zu überschreiten. Ich habe mir auch eine Liste von Sachen geschrieben, die ich beim letzten Mal bitter vermisst habe. Ich habe mir den Tipp gegeben, zu kooperieren, aber auf der Liste an Sachen zu bestehen. Interessanterweise habe ich auch bei dem letzten Klinikaufenthalt die Zeit auf der offenen Station fast ohne Besuch herumgebracht. Ich habe mich mit den anderen „Insassen“ beschäftigt. Ich habe einige Ausflüge in die Stadt gemacht, habe Kleidung für die anstehende Buchmesse gekauft und bin bei der Entlassung ganz alleine nach Hause gefahren. Nur einmal habe ich einige schöne Stunden mit meinem Bruder verbracht, wir waren Sandwiches essen, haben für mich wichtige Sachen aus meiner Wohnung geholt und uns unterhalten.
Zurück zum „Verstecken“, einer Angewohnheit, die ich in der Manie als eine Art „Selbstschutz“ entwickelt habe. Wenn die Manie bereits im Zug zu mir sitzt, lege ich sehr wichtige Dinge an einen anderen als den gewöhnlichen Platz. Denn in der Manie habe ich eine Art „temporäre Demenz“. Für einige Wochen ist mein Kurzzeitgedächtnis außer Betrieb. Egal wie leicht das Versteck sein mag, ich finde den Gegenstand nicht. Und erst wenn ich nach Monaten das Versteck „aufspüre“, bin ich sehr erleichtert, weil ich die Dinge „wieder habe“ und keinem Fremden aufgedrängt habe.
Lieber nutze ich meine „Welle der Großzügigkeit“ heutzutage, um Kleinigkeiten für meine Lieben zu kaufen, die ich mir leisten kann und die sie in letzter Zeit mal erwähnt haben. Dafür behalte ich die Dinge, die mir ans Herz gewachsen sind.
Zurück zur Klinik:
Die Wärter ignorierten mich großteils. Zu den anderen „Mithäftlingen“ aber baute ich eine Beziehung auf. Uns verband, dass wir die Zeit hier irgendwie absitzen mussten und uns die Einsamkeit plagte. Weniger dramatisch kann ich es nicht ausdrücken. Ich bekam oft Bilder geschenkt, die die anderen für mich malten, sie waren mit kryptischen Botschafen unterschrieben, die ich in der Klinik sofort entschlüsseln konnte. Wir tauschten „Schwarzmarktware“ (d.h. Süßigkeiten oder Cola) miteinander. Nachts, wenn die Krankheit uns wach hielt, aber die Küche verschlossen war und der Saft auf de kleinen Wägelchen längst getrunken war, unterhielten wir uns im Raucherraum. Wir waren hungrig, denn die Manie (bei mir, andere hatten anderes) kennt keine festen Zeiten zum Essen und Trinken.
Natürlich hatten wir alle Tabletten bekommen. Das wird ziemlich streng überwacht (zum Beispiel durch Vorzeigen der Zunge). Aber psychische Krankheiten wüten wie ein Biest im Menschen und dagegen ist (bis zu einer bestimmten Dosis) kein Mittel gewachsen. Beim letzten Mal hatte ich in eta die zweieinhalbfache Dosis: dann ist alles nur noch Nebel. Ausflüge nach draußen sind nur mit einem Zuckerzuführer zu überstehen (es ist wohl so ähnlich wie betrunken zu sein). Klar, für die „Wärter und andere Weißkittel“ ist man ein angenehmer Patient. Innerhalb der Klinik schläft man nur, kommt wie ein Zombie zu den Mahlzeiten und hat an nichts Interesse.
Neben dem Hunger war die Schmacht nach Zigaretten ein großes Thema. Ich bin pathologische Nichtraucherin, alle die versuchten mich zum Glimmstengel zu bringen, mussten bisher scheitern. Meine Sucht sind „Geschichten in allen Formen, d.h. Bücher, Comics, Hörspiele, Musicals, auch Bilderbücher.
Leider kann ich mich auf Bücher in der Manie nicht konzentrieren. Es sind einfach zu viele Gedanken in meinem Kopf (zum Beispiel, wie ich mit Leseprojekten für Kinder die Welt etwas schöner machen würde).
In der Manie sind Comics oder Bilderbücher am besten für mich als Beschäftigung. Leider hatte ich kein Comicbuch dabei. Und so machte ich ein Experiment. Ich ließ mir die erste Zigarette meines dreißigjährigen Lebens geben.
Sofort hörte ich von meiner Zimmernachbarin, mit der ich mich angefreundet hatte: „Lass es Judith, das passt nicht zu dir.“ So hatte ich das Offensichtliche bewiesen. Ich dachte, nun würde ich meine Ausgangserlaubnis (um Comics zu besorgen) bekommen. Da hatte ich mich geirrt.
War es Zufall oder nicht... in den letzten Tagen meiner Zeit in der „Geschlossenen“ bekam der Raucherraum einen neuen Anstrich und einen eigenen Fernseher. Denn der bisher einzige Patientenfernseher stand im Ergotherapieraum, den niemand außer mir aufsuchte, wenn nicht gerade gemalt oder gebastelt wurde.
Aber zur Ehrenrettung der Klinik muss ich sagen, nicht nur der Fernseher war eine Verbesserung. Heute ist die ganze Abteilung umgezogen. Es gibt eine Möglichkeit, Frischluft zu tanken und mir wurde berichtet, dass es jetzt nicht nur zwei Duschen für alle gibt, sondern dass die Zimmer mit Duschen ausgestattet sind.
Während meines letzten Aufenthaltes wurden alle Wände neu gestrichen, wie ich zuvor schon angedeutet habe. Ich saß oft bei dem Maler und erzählte ihm alles Mögliche, wähhrend ich auf meine Eltern wartete. Der Maler war taubstumm. Trotzdem schien er mich viel besser zu verstehen, als alle „Weißkeittel“ zusammen. Wenn ich zum Beispiel tobte, weil ich mal wieder ignoriert wurde, ging ich zu ihm und er bedeutete mir durch Gesten, dass ich ruhiger werden müsse, weil ich sonst niemals in die Freiheit, beziehungsweise die „offene Station“ entlassen werden würde. Ich glaube, er hat mir auf seine Art immer sehr gut zugehört.
Ein anderer, der mich zu beruhigen wusste, war der evangelische Pfarrer, der die Station regelmäßig besuchte. Er brachte eine Gitarre mit und ließ sie sogar, entgegen seiner Gewohnheit ein paar Tage im Ergotherapieraum liegen. Er musste gewusst haben, welcher Trost mir die Musik war in meiner äußerlichen und innerlichen Gefangenschaft. Eines Tages, als ich mich heftig mit den „Wärtern“ in die Haare gekriegt hatte (sie hatten versucht, ein tobendes Mädchen durch Überreden und Medis zur Ruhe zu bringen. In meiner Manie dachte ich, ich könnte sie einfach fragen, was sie hat und zuhören und dass sie dann zur Ruhe kommen würde. Daraufhin wurde ich mit Gewalt aus dem Raum gedrängt und wütend gefragt: „Werden SIE JE aufhören? Daraufhin reckte ich mich stolz zu meiner ganzen Größe von 1,60m empor und antwortete voller Stolz: „NIEMALS!“).
Der Pfarrer jedenfalls beruhigte mich, indem er eine halbe Stunde Musik von Simon & Garfunkel, den Beatles, den Doors und anderen Musikgrößen spielte.
Es fällt mir schwer, diese Zeilen zu schreiben. Denn ich habe mich damals so alleine gefühlt wie nie in meinem Leben. Ich merkte, dass ich keine Freunde hatte. Meine Eltern konnten mich nicht so oft besuchen, wie ich es gebraucht hätte, weil sie die Doppelbelastung meiner Krankheit und des Berufes hatten. Meine Verwandten hatte ich in der Manie verschreckt.
Ein ganzer Tag ohne Besuch fühlt sich in der „Klapse“ an wie sich ein Jahr in einem unglücklich gewählten Beruf anfühlen muss. Es zehrt an einem.
Es fühlte sich an, als wäre nicht nur mein Körper gefangen, sondern auch mein Herz.
Wenn ich an diese grässliche Zeit zurück denke, verdunkelt sich alles in mir. Ich versuche, zumindest in den nächsten zehn Jahren nicht mehr dorthin zu kommen. Ich wage nicht, noch weiter in die Zukunft zu planen.
Ich bezeichne die Anstalt oft als „Seelenknast“. Als ich einem Fachmann gegenüber diesen Begriff gebrauchte, wurde er sauer. „Das ist etwas ganz anderes. Das können Sie nicht vergleichen. Da werde ich richtig wütend.“
Aber, frage ich mich, hatte er denn schon Zeit in einer Klinik verbracht? Sicher, die Dauer ist der große Unterschied zwischen Klinik-und Gefängnisaufenthalt, aber können nicht schon wenige Wochen des Leidens einen Menschen für immer verfolgen?“
Wahrscheinlich würden die, die mich damals betreuten, alles umdeuten. Allein ich selbst stecke in meinem Körper und habe diese Zeit in jeder Sekunde erlebt. Denn was diesmal an der Medikation anders war, war die Dosis. Ich verlor dadurch nicht mich selbst in einem Meer von Nebel und Schlaf. Ich hielt mich fit dadurch, dass ich ein „Schlaftagebuch“ führte, damit wollte ich beweisen, dass ich ein normales Schlafverhalten hatte. Meine zweite Beschäftigung war, den „Ideefix“ (Ideenbox) mit allen möglichen Texten zu füllen, auf die ich maximal eine Reaktion bekommen habe.
Das wichtigste aber war, dass ich jeden Morgen rekapitulierte, welchen Wochentag, Monat und Jahr wir hatten. Außerdem versuchte ich mir die Namen aller Patienten sehr gut zu merken, so hatte ich zumindest eine gewisses Kontrolle über meine Situation.
Und damit möchte ich meinen kleinen Bericht über die Zeit „hinter Gittern“ (wenn es auch keine schwedischen Gardinen waren) schließen.
Vorgeschichte: Oktober 2007
„Die Buchexpertin war unterwegs. Ich war die Buchexpertin. Ich wurde geschätzt und geliebt für meine Expertenmeinung zum Sortiment, zur Schaufenstergestaltung, Dekoration. An diesem Tag, Freitag, dem 26. Oktober wurde mein Besuch in der Hübner´schen Buchhandlung in Essen erwartet.
Im schicken Nadelstreifenanzug ging ich dorthin, ich hatte nur eine kleine Handtasche dabei.
Bis zu dem Termin war noch mehr als eine Stunde Zeit. Also besah ich mir den Laden. Zuerst ging es zu den Kalendern. Ich packte mehrere großformatige Gartenkalender aus und breitete sie auf einem Tisch aus. Ich rief einen vorbeigehenden Mann zu mir und befragte ihn, welchen er am ehesten kaufen würde und ob das nicht „wunderschöne Gärten“ seien. Er überlegte und antwortete: „Den da!“
Ich bedankte mich und ging weiter zur nächsten Abteilung. Die Kalender auf dem Tisch waren meine erste „Präsentation“ (meines Sinnes für das Schöne) an diesem Tag.
Ich ging weiter zu den Biografien. Ich legte Mantel und Tasche auf einen Hocker, um mich mit beiden Händen den großen Bänden widmen zu können. Ich packte einige Bücher aus den sinnlosen, einengenden Plastikfolien aus und stellte sie wieder so auf, dass man auf sie aufmerksam würde.
Wie ich so emsig arbeitete, kam eine ältere Dame auf mich zu und fragte nach einem bestimmten Titel. „Ich bin leider neu hier“, antwortete ich und verwies sie an die Kollegin am Infotisch.
Heissa, Ich war begehrt. Ich wurde geschätzt und geliebt.
Danach setzte ich mich in den großen Sitzkreis. Neben den Bänken lagen Flyer mit einem Gewinnspiel. Ich wendete mich an „alle“ (Menschen, die dort saßen) und fragte, ob sie da nicht mitmachen wollten. Ich bekam keine Antwort und warf ich die Karten kurzenstschlossen alle in die Mitte des Sitzkreises. Die Menschen sahen mich nur staunend an. Kurz darauf merkte ich, dass ein Mann etwas näher an mich ran rutschte. Ich wusste sofort, dass es intuitiv geschah. Ich fragte ihn, was er beruflich mache. Zuerst wollte er nicht antworten, dann gab er zu Englischdozent zu sein. „Aha“, antwortete ich mit Expertenmiene. Und ich habe Englisch studiert“. Wieder hatte ich einen Treffer gelandet.
Danach ging es in die Kinderbuchabteilung. Ich setzte mich in die Minisitzgruppe, in deren Mitte ein Behältnis voller „Tiksi“-Bücher stand und legte sie händeweise auf den Tisch. Die anwesenden Kinder starrten mich seltsam atemlos an.
Plötzlich hörte ich vor dem Sitzkreis eine „Kollegin“ schimpfen: „Das gibt’s doch nicht. Überall liegen ausgepackte Bücherstapel. Und ich darf alles aufräumen. Wer macht denn sowas?“
Schwupps wurde aus der „Buchexpertin“ wieder die Bummelstudentin, die sich einfach nur mal einen lustigen Tag in der Stadt machen wollte und ich verließ unauffällig die Buchhandlung.
Hätte man mich erwischt, hätte ich vielleicht Hausverbot bekommen. Das wäre sehr schlecht gewesen, denn entgegen dem oben stehenden Bericht kannte ich die Buchhandlung sehr wohl. Sie war meine absolute Lieblingsbuchhandlung, manchmal nenne ich sie im Scherz auch „Arbeits,- bzw. Wohn,- zimmer“.
Am nächsten Tag lief ich ohne Schuhe und Strümpfe durch den kühlen Herbstmorgen. Meine ehemalige Kinderfrau brachte mich dann zu sich in Obhut und wenige Stunden später fuhr ich mit Blaulicht in die Klinik, das „Lied des Volkes“ auf den Lippen.
Fünf Jahre später: Erlebnisse während des dritten Klinikaufenthaltes
Es war wiede so weit. Zum dritten Mal war ich in dem Haus ohne Schlüssel. Jedenfalls besaß ich keine Schlüssel. Ebenso wenig wie Personalausweis, EC-Karte oder Studentenausweis. Wie immer war ich ein lauter, widerwilliger Gast. Ich hatte die Einladung eigentlich nicht angenommen, vielmehr abgelehnt.
Die „Wärter“ der Irrenanstalt, wie ich die Menschen in Weiß mit der Schlüsselgewalt nannte, mochten mich genau so wenig wie ich sie.
Wenn ich Besuch bekam (nach meinem Gefühl viel zu selten), bettelte ich um Geld für Süßigkeiten und Kleingeld für das Münztelefon. Meine Telefongespräche am Münzetelefon brachten keine wirklichen Ergebnisse. Meistens erreichte ich nur Anrufbeantworter (weil meine Verwandten arbeiteten oder im Urlaub waren). Immerhin erreichte ich meine Oma zweimal. Wahrscheinlich spendete sie mir Trost. Genau sagen kann ich das allerdings nicht mehr.
In der Klapse gibt es nicht viel Farbe. Deswegen wächst der Drang nach Musik, Zucker und schönen Dingen nach ganz kurzer Zeit ins Unermessliche.
Leider war mein „Musikspieler“ mal wieder verschwunden. Ich glaube, das war inzwischen der dritte. Sie wundern sich über die deutsche Bezeichnung ? Das ist bei mir ein Phänomen meiner Manie: wenn ich „krank“ bin, verleugne ich alle fremden Sprachen, aus dem „mp3-Player“ wird „Musikspieler“ aus „Salmon“ wird „Lachs“, im besonderen Fachbegriffe, mit denen die Ärzte mich bewerfen, bringen mich zur Weißglut. Natürlich verstehen die Weißkittel das nicht. Sie haben schließlich lange studiert, um so sprechen zu können, dass niemand sie versteht.
Zu stark sind die Medikamente auf der „Geschlossenen“. Wer weiß, vielleicht lässt mich mein Körper auch die schlimmsten Dinge vergessen, um mich zu schützen. Jedesmal wenn ich aus der Klinik kam, war es, als wäre mein ganzes Sysem gelöscht und neu aufgespielt worden, ohne eigene Dateien (zumindest was die letzten Wochen anging).
So ist das, wenn man „zu seiner eigenen Sicherheit“ von den „Normalen“ getrennt wird.
Ich bemerke die Rückkehr der Manie unter anderem daran, dass ich Sachen verstecke. Meine Wohnung ist voller Dinge, voller als andere Wohnungen. Ich sammele Figuren, Stifte, Bücher, CDs. Ich bin mit dem gesamten Inhalt meines Kinderzimmers in das neue Haus meiner Eltern gezogen und dann, nach zwei Jahren, in meine Zweizimmerwohnung. Ich kann nicht sehr gut loslassen.
Normalerweise.
Wenn ich „drüber“ bin, nehme ich Lieblings-CDs- und-bücher mit mir und verteile sie mit vollen Händen. Nach einigen Wochen, wenn ich wieder ausgeglichener bin, suche ich diese Dinge dann und weiß nichts mehr von meiner „Großzügigkeit“. Meist wollen die Leute meine Gaben auch gar nicht. Ich drücke sie ihnen einfach in die Hand und laufe weg.
So war es bis jetzt. Denn nach diesem dritten Klinikaufenthalt habe ich mir alle wichtigen Sachen aufgeschrieben. Ich habe mich selbst davor gewarnt, Grenzen zu überschreiten. Ich habe mir auch eine Liste von Sachen geschrieben, die ich beim letzten Mal bitter vermisst habe. Ich habe mir den Tipp gegeben, zu kooperieren, aber auf der Liste an Sachen zu bestehen. Interessanterweise habe ich auch bei dem letzten Klinikaufenthalt die Zeit auf der offenen Station fast ohne Besuch herumgebracht. Ich habe mich mit den anderen „Insassen“ beschäftigt. Ich habe einige Ausflüge in die Stadt gemacht, habe Kleidung für die anstehende Buchmesse gekauft und bin bei der Entlassung ganz alleine nach Hause gefahren. Nur einmal habe ich einige schöne Stunden mit meinem Bruder verbracht, wir waren Sandwiches essen, haben für mich wichtige Sachen aus meiner Wohnung geholt und uns unterhalten.
Zurück zum „Verstecken“, einer Angewohnheit, die ich in der Manie als eine Art „Selbstschutz“ entwickelt habe. Wenn die Manie bereits im Zug zu mir sitzt, lege ich sehr wichtige Dinge an einen anderen als den gewöhnlichen Platz. Denn in der Manie habe ich eine Art „temporäre Demenz“. Für einige Wochen ist mein Kurzzeitgedächtnis außer Betrieb. Egal wie leicht das Versteck sein mag, ich finde den Gegenstand nicht. Und erst wenn ich nach Monaten das Versteck „aufspüre“, bin ich sehr erleichtert, weil ich die Dinge „wieder habe“ und keinem Fremden aufgedrängt habe.
Lieber nutze ich meine „Welle der Großzügigkeit“ heutzutage, um Kleinigkeiten für meine Lieben zu kaufen, die ich mir leisten kann und die sie in letzter Zeit mal erwähnt haben. Dafür behalte ich die Dinge, die mir ans Herz gewachsen sind.
Zurück zur Klinik:
Die Wärter ignorierten mich großteils. Zu den anderen „Mithäftlingen“ aber baute ich eine Beziehung auf. Uns verband, dass wir die Zeit hier irgendwie absitzen mussten und uns die Einsamkeit plagte. Weniger dramatisch kann ich es nicht ausdrücken. Ich bekam oft Bilder geschenkt, die die anderen für mich malten, sie waren mit kryptischen Botschafen unterschrieben, die ich in der Klinik sofort entschlüsseln konnte. Wir tauschten „Schwarzmarktware“ (d.h. Süßigkeiten oder Cola) miteinander. Nachts, wenn die Krankheit uns wach hielt, aber die Küche verschlossen war und der Saft auf de kleinen Wägelchen längst getrunken war, unterhielten wir uns im Raucherraum. Wir waren hungrig, denn die Manie (bei mir, andere hatten anderes) kennt keine festen Zeiten zum Essen und Trinken.
Natürlich hatten wir alle Tabletten bekommen. Das wird ziemlich streng überwacht (zum Beispiel durch Vorzeigen der Zunge). Aber psychische Krankheiten wüten wie ein Biest im Menschen und dagegen ist (bis zu einer bestimmten Dosis) kein Mittel gewachsen. Beim letzten Mal hatte ich in eta die zweieinhalbfache Dosis: dann ist alles nur noch Nebel. Ausflüge nach draußen sind nur mit einem Zuckerzuführer zu überstehen (es ist wohl so ähnlich wie betrunken zu sein). Klar, für die „Wärter und andere Weißkittel“ ist man ein angenehmer Patient. Innerhalb der Klinik schläft man nur, kommt wie ein Zombie zu den Mahlzeiten und hat an nichts Interesse.
Neben dem Hunger war die Schmacht nach Zigaretten ein großes Thema. Ich bin pathologische Nichtraucherin, alle die versuchten mich zum Glimmstengel zu bringen, mussten bisher scheitern. Meine Sucht sind „Geschichten in allen Formen, d.h. Bücher, Comics, Hörspiele, Musicals, auch Bilderbücher.
Leider kann ich mich auf Bücher in der Manie nicht konzentrieren. Es sind einfach zu viele Gedanken in meinem Kopf (zum Beispiel, wie ich mit Leseprojekten für Kinder die Welt etwas schöner machen würde).
In der Manie sind Comics oder Bilderbücher am besten für mich als Beschäftigung. Leider hatte ich kein Comicbuch dabei. Und so machte ich ein Experiment. Ich ließ mir die erste Zigarette meines dreißigjährigen Lebens geben.
Sofort hörte ich von meiner Zimmernachbarin, mit der ich mich angefreundet hatte: „Lass es Judith, das passt nicht zu dir.“ So hatte ich das Offensichtliche bewiesen. Ich dachte, nun würde ich meine Ausgangserlaubnis (um Comics zu besorgen) bekommen. Da hatte ich mich geirrt.
War es Zufall oder nicht... in den letzten Tagen meiner Zeit in der „Geschlossenen“ bekam der Raucherraum einen neuen Anstrich und einen eigenen Fernseher. Denn der bisher einzige Patientenfernseher stand im Ergotherapieraum, den niemand außer mir aufsuchte, wenn nicht gerade gemalt oder gebastelt wurde.
Aber zur Ehrenrettung der Klinik muss ich sagen, nicht nur der Fernseher war eine Verbesserung. Heute ist die ganze Abteilung umgezogen. Es gibt eine Möglichkeit, Frischluft zu tanken und mir wurde berichtet, dass es jetzt nicht nur zwei Duschen für alle gibt, sondern dass die Zimmer mit Duschen ausgestattet sind.
Während meines letzten Aufenthaltes wurden alle Wände neu gestrichen, wie ich zuvor schon angedeutet habe. Ich saß oft bei dem Maler und erzählte ihm alles Mögliche, wähhrend ich auf meine Eltern wartete. Der Maler war taubstumm. Trotzdem schien er mich viel besser zu verstehen, als alle „Weißkeittel“ zusammen. Wenn ich zum Beispiel tobte, weil ich mal wieder ignoriert wurde, ging ich zu ihm und er bedeutete mir durch Gesten, dass ich ruhiger werden müsse, weil ich sonst niemals in die Freiheit, beziehungsweise die „offene Station“ entlassen werden würde. Ich glaube, er hat mir auf seine Art immer sehr gut zugehört.
Ein anderer, der mich zu beruhigen wusste, war der evangelische Pfarrer, der die Station regelmäßig besuchte. Er brachte eine Gitarre mit und ließ sie sogar, entgegen seiner Gewohnheit ein paar Tage im Ergotherapieraum liegen. Er musste gewusst haben, welcher Trost mir die Musik war in meiner äußerlichen und innerlichen Gefangenschaft. Eines Tages, als ich mich heftig mit den „Wärtern“ in die Haare gekriegt hatte (sie hatten versucht, ein tobendes Mädchen durch Überreden und Medis zur Ruhe zu bringen. In meiner Manie dachte ich, ich könnte sie einfach fragen, was sie hat und zuhören und dass sie dann zur Ruhe kommen würde. Daraufhin wurde ich mit Gewalt aus dem Raum gedrängt und wütend gefragt: „Werden SIE JE aufhören? Daraufhin reckte ich mich stolz zu meiner ganzen Größe von 1,60m empor und antwortete voller Stolz: „NIEMALS!“).
Der Pfarrer jedenfalls beruhigte mich, indem er eine halbe Stunde Musik von Simon & Garfunkel, den Beatles, den Doors und anderen Musikgrößen spielte.
Es fällt mir schwer, diese Zeilen zu schreiben. Denn ich habe mich damals so alleine gefühlt wie nie in meinem Leben. Ich merkte, dass ich keine Freunde hatte. Meine Eltern konnten mich nicht so oft besuchen, wie ich es gebraucht hätte, weil sie die Doppelbelastung meiner Krankheit und des Berufes hatten. Meine Verwandten hatte ich in der Manie verschreckt.
Ein ganzer Tag ohne Besuch fühlt sich in der „Klapse“ an wie sich ein Jahr in einem unglücklich gewählten Beruf anfühlen muss. Es zehrt an einem.
Es fühlte sich an, als wäre nicht nur mein Körper gefangen, sondern auch mein Herz.
Wenn ich an diese grässliche Zeit zurück denke, verdunkelt sich alles in mir. Ich versuche, zumindest in den nächsten zehn Jahren nicht mehr dorthin zu kommen. Ich wage nicht, noch weiter in die Zukunft zu planen.
Ich bezeichne die Anstalt oft als „Seelenknast“. Als ich einem Fachmann gegenüber diesen Begriff gebrauchte, wurde er sauer. „Das ist etwas ganz anderes. Das können Sie nicht vergleichen. Da werde ich richtig wütend.“
Aber, frage ich mich, hatte er denn schon Zeit in einer Klinik verbracht? Sicher, die Dauer ist der große Unterschied zwischen Klinik-und Gefängnisaufenthalt, aber können nicht schon wenige Wochen des Leidens einen Menschen für immer verfolgen?“
Wahrscheinlich würden die, die mich damals betreuten, alles umdeuten. Allein ich selbst stecke in meinem Körper und habe diese Zeit in jeder Sekunde erlebt. Denn was diesmal an der Medikation anders war, war die Dosis. Ich verlor dadurch nicht mich selbst in einem Meer von Nebel und Schlaf. Ich hielt mich fit dadurch, dass ich ein „Schlaftagebuch“ führte, damit wollte ich beweisen, dass ich ein normales Schlafverhalten hatte. Meine zweite Beschäftigung war, den „Ideefix“ (Ideenbox) mit allen möglichen Texten zu füllen, auf die ich maximal eine Reaktion bekommen habe.
Das wichtigste aber war, dass ich jeden Morgen rekapitulierte, welchen Wochentag, Monat und Jahr wir hatten. Außerdem versuchte ich mir die Namen aller Patienten sehr gut zu merken, so hatte ich zumindest eine gewisses Kontrolle über meine Situation.
Und damit möchte ich meinen kleinen Bericht über die Zeit „hinter Gittern“ (wenn es auch keine schwedischen Gardinen waren) schließen.
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