Der Weg zum Ziel

 Sie versuchte zu formulieren, doch die Müdigkeit ließ sie schlenkern und schludrig werden.
Sie seufzte tief... wie ein Stein, der in einen Brunnenschacht fällt.
Es war alles so sinnlos. Sie würde  dieses Buch nie beenden.
Sie war einfach keine Schriftstellerin.
In der Schule war sie in Deutsch und Englisch eher mittelmäßig gewesen.
Wie war sie nur auf die Idee gekommen, schreiben zu können?
Vor 19 Jahren hatte sie diese Idee. Ein historischer Roman. Viel zu engagiert. Jedenfalls für jemanden, der mit Geschichte nicht viel am Hut hatte und auch nicht das Recherchieren verinnerlicht hatte.
Aus der Idee wurde nichts, doch die nächsten warteten schon hinter der Stirn. Zunächst wollten ein paar Märchen geschrieben werden. Das passierte in der U-Bahn auf dem Weg zum Ausbildungsbetrieb.
Nach dem Abbruch kamen die nächsten Ideen. Erst ein Bilderbuch, dann ein Roman über "7 Große Geister": Mozart, Goethe, Shakespeare, die Gebrüder Grimm, Elizabeth die Erste, Walt Disney.
Auch das war mal wieder zu ambitioniert.
Nach ein paar Wochen ließ sie es sausen.
Zu der Zeit war sie mal wieder an der Uni immatrikuliert. Zum dritten Mal.
Das gab ihr einen "Titel". Ordentliche Studentin.... Na ja, unordentliche traf es wohl eher.
Bis zu ihrer Exmatrikulation 2012 ging sie praktisch zu keiner Vorlesung oder einem Seminar.
Aber irgendwann zu dieser Zeit, als sie bei ihren Eltern staubsaugte, kam diese Figur zu ihr. Die dicke Prinzessin...
Sie sang die ersten Worte... danach schrieb sie über mehrere Wochen an einer Geschichte. Dabei blieb es vorerst. Doch inzwischen war sie beim betreuten Wohnen, denn ihr war die "Manische Depression" oder "bipolare Störung" attestiert worden.
Bei Weihnachtsfeiern las sie die erste Geschichte vor.
Doch .. an dieser Figur, der dicken Prinzessin, war etwas dran.
Sie schrieb mehr, jedes Jahr ein paar Texte. Da gab es noch keine Idee für ein Buch. Sie glaubte nicht, dass die Prinzessin allein interessant genug sein könnte.
Dann kam das schlimmste Jahr... 2016, als sie keine Tabletten nahm. Alles war drunterdrüber.
Doch, obwohl sie zwischen wach und schlafend schwebte, und fast vergaß, wer sie war, schrieb sie.
Es ist jetzt nicht mehr genau zu sagen, wie oft, aber wahrscheinlich schrieb sie in dieser Krankheitsphase mehr als in den Jahren davor zusammen.
Immer wenn sie zuhause war, denn an vielen Tagen fuhr sie viele Kilometer ohne ein bestimmtes Ziel mit Bahn und Bus, oder auch Taxi (ohne Geld) herum.
Die Texte, die in dieser Zeit entstanden, waren von der Krankheit durchdrungen, aber allesamt drehten sich um die dicke Prinzessin.
Und, wie sie heute wusste, hatten alle diese Texte einen besonderen Funken.
Zudem war die Riege der Figuren um eine weiße Spinne und einen Teufelsgeiger erweitert worden.
Die folgenden Jahre, bis heute, 2022, schrieb sie gelegentlich weiter. Manchmal in der Uni-bibliothek, mal zuhause.
Und dann gab sie die Arbeit in der  Behindertenwerkstatt auf, in der sie 24 Monate gewesen war.
Sie hatte finanzielle Unterstützung erhalten, aber dorthin zu gehen kam ihr jeden Morgen vor, als müsse sie mit einem Mühlstein auf dem Rücken herumlaufen.
Sie war nie ein Menschen -Mensch gewesen. Am liebsten blieb sie alleine Zuhause oder in der Wohnung ihres Freundes.
Den hatte sie in der Werkstatt kennengelernt.
Er blieb bei ihr.
Und jetzt ist es August im Jahr des Abbruchs.
Das Manuskript ist 155 Seiten lang. Voller Fehler, Langeweile und Unnötigem.
Doch es ist der längste Text, den sie je geschrieben hatte.
Ihr Freund war bereits Testleser, ein Betreuer würde etwas lektorieren, ein Bekannter könnte eventuell Illustrationen beitragen.
Jetzt frage ich euch:
Wäre es nicht das Allerblödeste, jetzt aufzuhören, ein paar Monate vor der Fertigstellung?
Führte nicht der Weg zum Ziel, also das Schreiben zur Schriftstellerin ?


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