Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern,
sondern des Menschen Verhältnis zur Welt.

Der Fischer und seine Frau
Teil 1
Es war einmal und es war keinmal - so fangen orientalische Märchen an;
doch der Erzähler dieses Märchens selbst entstammt dem Anatolischen
Kernland, der Haupstadt der heutigen Türkei, die eine Hauptstadt ist,
seit es moderne Staaten gibt, Weltkriege, der Kolonialismus zum
Imperialismus wurde und der Globus zu einem Dorf. Der Zeiten und
Historie entrückt lebten einst unweit von hier am Mittelmeer womöglich
ein Fischer und seine Frau, beide schon gut betagt und ebenso gut in
Harmonie und guter Laune und Liebe und waren fast wunschlos glücklich,
obwohl ihre Hütte am Meer nicht groß, das Boot schon alt und die Netze
so häufig geflickt waren und die Ehe kinderlos. Was das Meer und was ihr
kleiner Nutzgarten um ihre Hütte ihnen bescherte, worin zwei
Apfelbäume, ein Quittenbaum, zwei Olivenbäume und ein Feigenbaum mit
ihnen lebten nebst einem Ziegenpaar, Katzen und einem Hund, der man weiß
nicht warum, nur die geneigten Leser mögen es erraten, Tarik hieß wie
der Wahlbruder des Erzählers Seelenfreund, der nirgends fehlen darf. Der
Erzähler selbst nur Narr, nur Dichter lebt in einem Märchenland, aber
nicht von ihm soll nun mehr die Rede sein, sondern von dem Wörtchen
«fast» in der Wendung «fast wunschlos glücklich». Denn ja, was fehlte
dem alten glücklichen Pärchen denn, wenn sie schon Liebe und Harmonie,
ein Dach über dem Kopf, einen Garten drum herum und darin Tiere und
Pflanzen hatten wie Bäume, Bohnen, Tomaten, Kartoffeln, Kürbisse? Man
mag an Mehl denken und etwas Hefe, um Brot zu backen und damit kommen
wir der Sache schon näher.
Die beiden hatten im Laufe der Jahre ihrer Betagtheit ihre Zähne
verloren und konnten das Brot nicht beißen, das die Fischersfrau so
zauberhaft im Steinofen im Gärtchen zu backen verstand, wenn ihr Mann
vom Markt Mehl mitbrachte, was er vom Erlös der Fischverkäufe erwarb.
Die Marktgänge des Fischers waren immer von Vorsicht geprägt; er kaufte
nicht viel, sparte das erworbene Geld und legte es sorgfältig beiseite,
bis er eines Tages zu seiner Frau sprach, als beide es satt hatten,
immer nur das Brot in Ziegenmilch getunkt und feucht und weich zu sich
zu nehmen: «Liebste Gefährtin mein, wir haben in der Schatulle etwas
Geld gespart, lass uns in die Stadt gehen und Maß nehmen für ein Gebiss,
denn für zwei wird es nicht reichen! Nun haben wir unser ganzes Leben
lang alles geteilt, lass uns gegen Ende auch das Gebiss uns teilen. Ich
habe eine Werkstatt für Zähne und Gebisse gesehen - das ist höchstmodern
und nennt sich "Dentallabor", da können wir uns wenigstens ein Gebiss
machen lassen.» «Dentallabor? Habe ich noch nie gehört. Und die machen
Zähne?», fragte seine Frau. «Ja, so ist es. Ich hatte es auch noch nie
gehört, aber sie haben am Eingang rechts einen riesen großen Zahn aus
Plastik und daran ein Schild, worauf Dentallabor geschrieben steht.
Hinter dem Eingang ein Empfang, wo eine junge schöne Frau freundlich
lächelnd nach den Wünschen fragt. So war ich bei ihr aus Neugier und
fragte, und die erklärte mir alles. Sie fand meinen Wunsch am Ende etwas
ungewöhnlich, sie müsse ihren Chaf erst fragen, dieser kam aber im
weißen Kittel und mit blauen Handschuhen, hörte sich alles an und sagte:
Ja, das können wir machen! Bequem und passgenau wird es wahrscheinlich
nicht, aber möglich ist es!» «Mann, Du sprichst in Rätseln! Was hast du
denn die junge Dame gefragt?» «Ich fragte nach den Kosten für ein Gebiss
und musste feststellen, dass unser Erspartes nur für ein Gebiss reicht,
selbst wenn wir etwas Preisnachlass gewährt bekommen. Also fragte ich,
ob es denn ginge, dass du, meine Frau und ich, dein Mann, uns ein Gebiss
auch teilen können, wie wir uns das Leben so schön geteilt haben. Ja,
das ginge theoretisch wohl, wie gesagt, bequem und passgenau werde es
wohl nicht für beide, aber Maßnehmen müsste der Dentist schon von
beiden. Also müssen Du und ich nun uns auch den Weg in die Stadt zum
Markt und Dentallabor teilen!»
Des Fischers Frau lachte mit zahnlosem Mund. So machten sich die beiden
Hand in Hand auf den Weg in die Stadt. Der Dentist machte
Plastilinabdrücke, maß und rechnete, grübelte und kratzte sich am Kopf,
ging an seinen Computer und machte einen 3-D-Scan von den Abdrücken und
ließ eine Synthese sich errechnen; ging an den 3-D-Drucker und ließ sich
eine Form ausdrucken und machte sich dann an die Arbeit. Zuvor sagte er
aber dem Fischerspaar: «Das wird nun einen halben Tag dauern. Kommt am
Abend wieder.» So entließ er die beiden in die Stadt; sie zogen zu einem
Bummel von dannen.
Auf dem Marktplatz war viel los. Das gefiel den beiden. Mal Händchen
haltend, mal Arm in Arm, mal jeder für sich sahen sie sich die Stände
mit den Waren an, blieben hier und da länger stehen, achteten immer
darauf einander nicht zu verlieren. So kamen sie zu einer Gruppe von
Musikanten, Gauklern und Jongleuren. Sie hatten gerade pausiert, aber
als sie das alte, freundliche Paar interessiert stehen bleiben sahen,
formierten sie sich schnell und begannen zu spielen. Die beiden waren
ganz fasziniert und begeistert, klatschten Beifall und riefen bravo! Und
da flüsterte die Fischersfrau ihrem Mann ins Ohr: «Wir sollten den
Artisten etwas geben, auch wenn wir nicht so viel haben - sie sollen das
alles nicht umsonst für uns getan haben!» Der Mann sah seine Frau
freundlich und verständnisvoll an, nickte und kramte in seiner Tasche,
holte Münzen heraus und zeigte sie in der flachen Hand seiner Frau. Sie
nahm alles und warf sie in den Hut vor der Künstlertruppe. Sie bedankten
sich und spielten noch einmal fröhlich und lebhaft auf. «Das war unser
ganzes Geld, was nach dem Dentisten übrig blieb», seufzte der Fischer,
es klang aber nicht vorwurfsvoll. Seine Frau erwiderte: «Das macht
nichts. Wir haben noch genug zu essen zuhause und dort werden wir unsere
Zähne ausprobieren. Das ist mir sowieso lieber.» Der Fischer nickte
zustimmend. Fröhlich waren sie und ihre Herzen lachten jubelten
angesichts der schönen lebhaften Musik.
Sie bemerkten den älteren
dunkelhäutigen Mann mit dem stattlichen Bauch nicht, der hinter ihnen
stand und Zeuge des kurzen Gesprächs zwischen den Fischersleuten
geworden war und freundlich lächelte, wobei sich zwei Reihen Goldzähne
in seinem Mund offenbarten. Er trat von hinten ganz dicht an das Ehepaar
heran und entwendete mit äußerstem geschick dem Fischer das
Portemonnaie, noch ehe der Fischer überhaupt irgend etwas bemerken
konnte, steckte er etwas hinein und platzierte es wieder in des Fischers
Gesäßtasche zurück. Dann sprach er das Ehepaar an: «Sie haben
anscheinend großen Gefallen an meiner Musikantentruppe. Das freut mich
sehr. Gerne möchte ich Sie zu unserem Camp am Rande der Stadt einladen.
Wir essen und trinken gemeinsam und Sie können noch mehr von unserer
Musikkultur genießen.» Seine Augen funkelten und er lächelte freundlich.
So schlugen der Fischer und seine Frau die Einladung nicht aus,
schlossen sich der munteren Truppe an und gingen mit ihnen in ihr Camp.
Einige Dutzend Wohnwagen und Wohnmobile standen da; Kinder spielten und
tollten umher, einige Hunde lagen gemächlich vor den Eingängen; einige
Jugendliche standen oder saßen herum, während sie mit ihren Smartphones
spielten und einander interessante und lustige Dinge auf ihren Displays
zeigten. Als sie die Gruppe auf den Campingplatz kommen sahen, grüßten
sie freundlich und respektvoll und beachteten das ältere Ehepaar kaum.
Neben einem Wohnmobil etwa auf der Höhe des Eingangs war eine große
Feuerschale aufgestellt und darin Holz feuerfertig aufgeschichtet. Ein
Hund sprang schwanzwedelnd fröhlich und munter den Ankömmlingen
entgegen; erst zu dem Mann, dann zum fremden Besuch. Der Fischer kraulte
ihn und erwiderte die freundliche Begrüßung des Hundes. «Das ist Heinz,
unser Altdeutscher Schäferhund», erklärte der freundliche Mann mit den
Goldzähnen. «Er jagt vielen furchtbare Angt sein, es freut mich, dass du
ihn so freundlich gekrault hast». «Die Freundlichkeit ging von ihm aus,
die gab ich ihm gerne wieder», antwortete der Fischer. «Ja, so ist mein
Mann. Er versteht sich mit vielen Tieren, am besten aber tatsächlich
mit Hunden», erzählte die Fischersfrau. Sie unterbrach sich, weil ihr
Blick auf eine stattliche Frau fiel, die in diesem Moment aus dem
Wohnmobil kam. Die Fischersfrau konnte nicht verhehlen, dass die bunten
Stoffe, die die Frau trug ihr den Atem verschlugen. «Was für ein schönes
Kleid!», rief sie aus. «Ich bin Merjama», stellte sich die Frau vor.
«Und Marian, der aus Lust und Laune die Musiktruppen in die Stadt
begleitet, ist mein Mann! Los, mein strahlender Held! Zünde endlich das
Feuer an! Und hol deine Geige! Ich habe schon alles vorbereitet. Du
spielst, ich koche, dann können wir bald essen und das Kochen ist ganz
kurzweilig!»
Manch einer würde an dieser Stelle sicher denken:
«Ach! Typisch! Die Frau muss kochen, während der Mann seiner kunst
frönen darf und einfach vor sich hin fiedelt!» Doch Merjama würde dem
widersprechen: «Ich mag das Gedudel aus dem Radio nicht, es ist für mich
akustischer Hirnkleister! Lieber höre ich Marian zu, wenn er seine
Fiedel zum Lachen, Weinen, Heulen, Jaulen bringt. Das zu können, ist
alles andere als einfach. Alles hat seine eigene Tiefe und Kunst, wenn
man es nur sachgemäß betrachtet. Marians Musik rührt mich zutiefst. Und
ich setze alles in Geschmack um, in Würze und Duftnoten.» «Ja, die Suppe
wird ein Gedicht», ergänzte der Mann mit den Goldzähnen: «Und es wird
wundervolles weiches Fladenbrot dazu geben! Ihr könnt alles in die Suppe
tunken und ganz ohne Gebiss genießen.» Merjama nickte: «Aber nur, wenn
du spielst, mein Lieber! Nur wenn du spielst!» Und sie strich ihrem Mann
zärtlich über die Wangen. Das Essen wurde ein sagenhaftes Gedicht, die
Fischersleute hatten nie zuvor so etwas Köstliches gegessen. Und es
stellte sich im Laufe des Tages heraus, dass Merjama nicht nur köstlich
kochen, sondern auch magisch schön singen und Kastanietten und Glöckchen
spielen konnte; die Zeit verflog, die alten Eheleute hatten so viel
Freude wie nie zuvor in ihrem Leben und sie vergaßen völlig, das
bestellte Gebiss rechtzeitig vom Dentallabor abzuholen. «Ach das Labor
und das Gebiss laufen euch schon nicht weg», sagten ihre neuen Freunde
lachend. So wurde es spät Nacht.
«Ihr seid unser Gast, ihr könnt bei uns im Wohnmobil schlafen. Wir haben
Platz, Matratzen, Kissen, Decken - alles, was euer Herz begehrt! Und
morgen trinken wir Kaffee und frühstücken zusammen. Ich habe Butter und
Lindenblütenhonig. Euch soll es an nichts fehlen!» «Ihr seid tolle
Freunde! Wir danken euch sehr! Uns hat es zwar bisher schon an nichts
gefehlt! Wir waren immer sehr glücklich. Aber nun seid ihr das
Sahnehäubchen unseres Lebens geworden!» So sprachen der Fischer und
seine Frau. Am nächsten Morgen frühstückten sie wie versprochen,
unterhielten sich bis in den Mittag und dann machten sich der Fischer
und seine Frau auf den Weg zum Dentallabor. Ihre Bestellung war fertig
und wurde ihnen in einer Schutzschachtel übergeben. Überglücklich ging
es nun nach Hause. Als sie aber ankamen, machte der Fischer in seiner
Tasche eine Entdeckung, die ihn schreckensbleich werden ließ, als habe
ihn der Schlag getroffen. Sorgenvoll fragte seine Frau, was mit ihm los
sei und brachte ihm schnell ein Glas Wasser.
Er trank und sprach
mit ganz trockenem Mund, als habe ihm seine Frau Sand im Trinkglas
kredenzt: «Ich glaube, ich habe diese Krankheit, dass die eine Hand
nicht weiß, was die andere tut. Diese Krankheit, in der zwei ganz
unterschiedliche Seelen einen Körper bewohnen und die eine von der
anderen nichts weiß, aber vor den Ergebnissen der Handlungen steht und
es nicht fassen kann!» «Was redest du da? Ich verstehe kein Wort!»,
erwiderte seine Frau, so dass er nicht umhin konnte ganz konkret zu
werden: «Schau!» Er hielt einen schlichten und sehr schönen Ring in
seiner, die er seiner Frau zeigte. Die Schönheit des Rings bezauberte
und rührte sie sehr: «Oh! Wie schön!», rief sie fasziniert. Wann hatte
ihr Mann nur diesen Ring für sie besorgt? Und von welchem Geld? Hatte er
womöglich beim Fischen eine Schatztruhe gefunden und wollte sie nun
damit überraschen? Sie nahm den Ring und steckte ihn sich an den Finger.
Der Fischer aber schüttelte unglücklich den Kopf. «Meine Liebste, so
gerne ich dir diesen Ring schenken würde, aber ich weiß nicht, wie ich
an ihn gekommen bin. Ich habe ihn soeben in meinem Portmonnaie gefunden
und weiß nicht, wie er dahin gelangt ist.» «Ach, jetzt verstehe ich, was
du meintest», antwortete die Frau und zog lächelnd den Ring von ihrem
Finger. «Mein Lieber, du weißt, dass unsere Liebe dieses Ringes nicht
bedarf! Und ich weiß, dass du niemals zum Dieb würdest, um mich
glücklich zu machen! Denn mein Glück bist du! Und kein Schmuck der Welt!
Meinst du, du hast diesen Ring unseren Freunden gestohlen und weißt das
gar nicht mehr, weil du nicht du warst, sondern ein anderer?» Mit
Tränen in den Augen nickte der Mann gesenkten Hauptes. «Ich mache einen
Vorschlag: wir bringen den Ring unseren Freunden wieder zurück und
erzählen ihnen, alles haargenau, wie es war! Ich bin mir sicher, sie
werden uns verstehen! Wir brauchen doch diesen Ring nicht, mein lieber
Mann! Aber jetzt koche ich uns erst einmal was, wir essen und stärken
uns mit unserem Gebiss, probieren es aus und machen uns morgen auf den
Weg in die Stadt zu unseren Freunden.»
Und so taten sie es. Der Fischer hatte eine schlaflose Nacht, saß am
Strand und lauschte den Wellen des Meeres und sinnierte und wartete
gespannt, ob er wieder das Bewusstsein wechseln und ein anderer werden
würde; er wollte auf gar keinen Fall den Augenblick verpassen. Aber
nichts geschah und der Morgen graute. Die Morgenröte ergriff ihn und
beruhigte sein Herz. Wie schön die Welt und das Leben waren! Ein
fröhliches Entzücken überkam ihn. Er hatte eine wundervolle
Lebensgefährtin, nun auch wunderbare Freunde. Er fühlte sich sicher und
geborgen in der Welt.
Sie frühstückten nach Sonnenaufgang gemeinsam. Eine Schale mit Wasser
stand in der Mitte ihres Tischchens und bevor das Gebiss den Mund
wechselte, wurde es kurz in dieser Schale gespült. Sie hatten Freude
daran, über den Tisch einander kleine Häppchen in den Mund zu schieben,
kicherten wie Kinder und witzelten. Sie erfreuten sich daran, wenn der
andere glücklich kaute. Und nach dem Frühstück machten sie sich Hand in
Hand auf den Weg in die Stadt. Der Fischer hatte nachdenklich den Ring
in sein Portmonnaie geschoben, als könnte ihm dabei doch noch einfallen,
wie er an den Ring gekommen war. Seine Frau beachtete den Ring gar
nicht. Ihr Mann war kein Dieb und bald würde sich alles aufgeklärt
haben, oder zumindest doch erledigt, denn schließlich gaben sie den Ring
ja seinem Eigentümer zurück.
Als die Fischersleute endlich die
Stadt nach einer frohgemuten Wanderung erreichten; mit jedem Schritt,
den sie der Stadt näher kamen, wuchs der Frohsinn des betrübten Fischers
und seine Schritte wurden beschwingter; als sie endlich die Stadt
erreichten, stand ein bucklicht Männlein am Wegrand und grüßte das alte
Ehepaar. Die Frau wollte stehen bleiben und ein kleines Schwätzchen mit
dem bucklicht Männlein halten, ihr Mann aber zog sie mit sich fort. Als
sie sich noch einmal nach dem bucklicht Männlein umdrehte, war er
verschwunden. Der Fischer schlug zielsicher den Weg Richtung
Campingplatz ein.
Dort aber erlebten sie eine Überraschung. Die weitläufige Wiese
war ganz leer. Kein Wohnwagen, kein Wohnmobil, fast keine Menschenseele
weit und breit. Nur in einiger Entfernung ein Mann mit einem weißen
großen Hund, der mit der Gelassenheit eines Schäfers in die Gegend
schaute und seinen Hund frei auf der Wiese schnüffeln und schuppern
ließ. Der Hund hatte das Ehepaar längst bemerkt und betrachtete sie aus
der Ferne neugierig mit hoch in den Himmel aufgerichteten gebogenen
Schwanz und spitzen Ohren. Der Fischer war fassungslos. Damit hatte er
nicht gerechnet, dass er den Campingplatz leer und verlassen
wiederfinden würde. Ob er sich am Ort vertan hatte und es doch womöglich
zwei Campingplätze gab? Etwas hilflos sah er seine Frau an. War das nun
ein Anzeichen seiner befürchteten Krankheit? Sie aber erwiderte seinen
ratlosen Blick. Und der Hund setzte sich gemütlich in Gang, um sich
ihnen anzunähern. Auch der Mann hatte sie bemerkt und versuchte aus der
Ferne einzuschätzen, ob sie Angst vor seinem großen kräftigen Hund haben
würden, wie es leider nicht selten vorkam. Der Hund kam auf die
Fischersleute zu ganz ohne Eile und etwa zehn Schritte vor ihnen stehen
bleibend, zur Seite blickend und sich etwas abwendend, was so viel
bedeutete wie, ich komme in Frieden. Als der Fischer ihn ansprach,
begann er mit dem Schwanz zu wedeln. «Ja, komm mal zu mir, du Großer!»
Das ließ sich der Große nicht zweimal sagen und drehte sich die Beine
des Fischers anschmiegend zur Seite und gab sich äußerst zutraulich. Da
näherte sich auch schon sein Herrchen lächelnd: «Hallo. Das ist Diego
Li. Er erkennt, wer ihn mag und von anderen hält er sich eher fern.» Der
Fischer kraulte Diego Li, der nun auch an die Beine der Frau strich und
sie begrüßte. Auch sie war ihm sehr zugewandt. «Meine Güte! Was für ein
freundlicher Großer du bist!», sagte sie von der Freundlichkeit und
Zutraulichkeit des Hundes gerührt. Da aber wurde die Aufmerksamkeit des
Hundes abgelenkt, er richtete seine Nacken und Rückenhaare zu einer
Bürste auf und den Schwanz spitzte er wie einen Speer nach hinten; ließ
auch ein leises Knurren vernehmen. Sie schauten alle in die Richtung, in
die auch der Hund aufmerksam und etwas drohend schaute. Da kam ihnen
das kleine bucklicht Männlein näher. Diego Li aber ging ihm entgegen, um
sich zwischen ihn und die kleine Gruppe zu stellen. Und nun bellte er
kräftig. Sein herrchen ging zu ihm, stellte sich mit seinem Schenkel ihn
berührend neben ihn und legte seine Hand zart um seinen Körper, nicht
um ihn zurückzuhalten, sondern ihm zu signalisieren: ich bin bei dir,
mein Freund! Das bucklicht Männlein blieb in gebührendem Abstand stehen,
tat aber unbeeindruckt, nickte und sprach: «Da also muss sich nun der
Poet höchst persönlich einbringen mit Hund und Weisheit.» Die Eheleute
verstanden nicht so recht, was das Männlein meinte. Aber die Frau nutzte
die Gelegenheit, das Wort zu ergreifen: «Nun treffen wir Sie zum
zweiten Mal. Guten Tag! Wir wollten hier die Leute besuchen, die gestern
noch hier kampierten.» «Ich habe hier niemanden gesehen», sagte das
buklicht Männlein kurz und knapp, wünschte noch einen guten Tag und
setzte seinen Weg fort, indem er einen etwas verächtlichen Blick auf
Diego Li warf, der seine Angst vor ihm kaschieren sollte. Das Ehepaar
sah sich ratlos an. «Niemanden gesehen», wiederholte der alte Fischer
traurig. «Wir gehen hier fast jeden Tag spazieren», sagte der Mann mit
dem Hund. «Hier kampierte schon seit fast zwei Wochen niemand.» Er sah,
dass diese Aussage das ältere Paar verunsicherte, was ihm Leid tat, aber
etwas Seltsames lag heute in der Luft über dem Campingplatz. Denn Diego
Li schnupperte und schnüffelte, als habe er heute hier eine ganze Horde
von Hunden, Schafen, Kaninchen und Rehen zu beschnuppern. Er war auch
schon wild herum gerannt und hatte getobt. Der Mann hatte das als eine
plötzliche Spiellaune gedeutet, in die er manchmal kam, wenn er sich
sehr wohl fühlte. Das erzählte er den beiden, wissend, dass er sie damit
nicht wirklich beruhigen und informieren konnte.
Da entschloss sich der Fischer plötzlich, dem freundlichen Hundepoeten
den Ring zu zeigen. «Schauen Sie nur! Vorgestern trafen wir in der Stadt
Straßenmusiker. Wir fanden sie ganz wundervoll und ihr Chef, der unter
den Zuschauern weilte, sprach uns an und nahm uns mit in ihren Camp
hierher. Wir aßen und tranken und saßen am Feuer und haben auch bei
unseren neuen Freunden übernachtet, wir haben mit ihnen gefrühstückt und
haben uns auf den heimweg gemacht. Und was finde ich zuhause in meiner
Geldbörse?» Der Poet betrachtete zwischen Zeigefinger und Daumen den
Ring drehend den Ring. «Was für ein schöner Ring! Sie fanden diesen Ring
in ihrem Portmonnaie!» Jetzt mischte sich seine Frau ein: «Ja, und er
glaubt, dass er es unwissentlich den Freunden gestohlen hat und dass er
langsam auf seine alten Tage verrückt wird, dass die eine Hand nicht
weiß, was die andere tut!» Der große weiße Hund mit den hellblauen Augen
hatte die ganze Zeit neben seinem Herrchen gesessen, zu ihm
emporgeschaut und ganz aufmerksam zugehört. Als er sah, wie dieser den
Ring seinem Besitzer zurückgab, stupste er sein Herrchen sanft mit der
Nase an. «Ein wunderschöner Ring, wirklich!», wiederholte der Hundepoet
verzückt. Und während er automatisch in seine Tasche griff, um seinem
vierbeinigen Seelenfreund ein paar Leckerchen zu geben, denn ihm war das
Stupsen nicht entgangen, fügte er noch etwas ganz Erstaunliches hinzu:
«Ich würde diesen Ring ihrer Frau anstecken an Ihrer Stelle und mir gar
keine Sorgen um meinen Verstand machen. In der Stadt trafen auch wir die
Straßenmusikanten und hörten ihnen eine ganze Weile zu. Aber hier auf
der Wiese war seit gut zwei Wochen kein Campingwagen mehr.» Da hob Diego
Li seine Pfote und stupste seinen Papa kräftig fordernd an, worauf
dieser wieder einpaar Leckerchen aus der Tasche holte. «Aber ich muss
auch hinzufügen», sprach der Poet weiter, «ich muss auch hinzufügen,
dass Diego Li heute hier umher geschnuppert hat, als wäre hier ein
Volksfest gewesen. Das fand ich schon sehr seltsam!» Der alte Fischer
nahm den Ring ratlos zurück. «Aber das ist doch Diebstahl!», murmelte
er. Und seine Frau sagte: «Wir brauchen zu unserem Glück miteinander
keinen Ring!» Der Poet lächelte gerührt. «Sie haben niemanden, dem Sie
den Ring zurückgeben könnten, stimmt's? Also bleibt ihnen nichts anderes
übrig als ihn sicher zu verwahren. Und wo wäre der Ring sicherer als am
Finger Ihrer Frau? Sie verlieren ihn womöglich aus Ihrem Portmonnaie -
ja und dann? Halten Sie Ihre Freunde und deren Ring in Ehren und geben
ihr zurück, wenn Sie sie wiedersehen.» So steckte der alte Fischer den
Ring an den Finger seiner Frau - und es war ihm feierlich zumute. Sie
verabschiedeten sich von Diego Li und dem namenlosen Poeten und gingen
in die Stadt in der Hoffnung, die Musikantentruppe noch einmal zu
treffen. So verbrachten sie einen weiteren Tag in der Stadt, trafen aber
keine Straßenmusikanten. Die Frau fragte noch einige Passanten nach dem
Weg zum Campingplatz in der Hoffnung, sie würden ihr einen Weg zu einem
anderen Campingplatz zeigen. Aber das war vergeblich. So trug die Frau
den Ring am Finger und hielt ihn in Ehren und in ihrem Mann verblasste
die sorgenvolle Idee, er könnte seelisch krank geworden sein. Er vergaß
zwar so manches, aber nie hatte er das Gefühl, nicht er selbst zu sein.
Wenn sie nicht gestorben sind, so leben der Fischer und seine Frau mit
dem Ring am Finger noch heute und teilen sich beim Essen ihr Gebiss. Das
bucklichte Männlein aber begegnete dem Poeten auf seinem Heimweg, Diego
Li erkannte es und bellte es nicht an und das Männlein sagte dem
Poeten: «Ist es nicht seltsam, was die beiden erlebt haben? Solltest du
nicht besser einen zweiten Teil erzählen und das Seltsame zu ergründen
suchen, auch wenn niemand es letztlich ergründen kann?»
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